Vektorieller Zugang zur Bildung von Räumen für Vocals

November 22, 2023 | Producer’s Perspective

Einen großartigen Raum zu kreieren, der für Gesangsaufnahmen stimmig ist, kann eine große Aufgabe sein. In diesem Artikel zeigen wir dir, wie du diese Aufgabe effizient und ganz gezielt meisterst.

Falls du dich je gewundert hast, warum ein Hall auf deiner Gesangsspur weniger beeindruckend klingt, als du erwartet hast, hat es meist nichts mit dem Halleffekt oder der Gesangsaufnahme ansich zu tun. Es liegt wahrscheinlich mehr an der schwer greifbaren Wahrnehmung, was wir als natürlich im Kontext mit dem Audiomaterial empfinden. Wie kann sowas aber wirklich beurteilt werden? Ein einfaches “Ich mag es” oder “Ich mag das nicht” reicht zwar manchmal, aber ein reproduzierbares Denkmuster ist damit nicht gegeben. Wir tauchen also tief in das Thema ein, damit du eine klare Sicht darauf hast, wo die Probleme liegen, warum sie existieren und wie du sie lösen kannst.

Um das Ganze akustisch aufzuzeigen, haben wir die Stimmaufnahme der deutschen Künstlerin CHIIARA aus ihrem Song “Leicht”. Für unsere Aufgabe ist es entscheidend hochqualitatives Audiomaterial zu verwenden, um die Fortschritte klar beurteilen zu können.

Der übliche Weg für Raum und Reverb

Wir gehen zuerst den üblichen Weg, indem wir uns nur die Vocals anhören und in smart:reverb das “Vocals” Profil mit den daraus resultierenden Einstellungen verwenden. Das Einzige was wir verändern, sind die Einstellungen für Wet/Dry. Aus Gründen der Einfachheit nutzen wir die Send/Return-Methode – dabei ist Dry bei 0 und Wet bei 100, um die ursprüngliche Aufnahme und das Signal mit dem Halleffekt besser vergleichen können.

Vocal Dry

Reverb Only

Vocal + Reverbsmart:reverb by sonible

Wir können hören, dass der Halleffekt generell gut zum Audiomaterial passt, aber es besteht auch ein wenig Optimierungspotenzial: Ein paar Frequenzen der Stimme und des Halleffekts kollidieren, die wahrgenommene Breite des Raumes scheint ein wenig zu schmal und die Hallfahne endet etwas zu abrupt. Hinzu kommt, dass der Hall die Stimme nicht genug hervorhebt und für dieses Beispiel wollen wir genau das – der Hall soll die Schönheit der Stimme unterstreichen ohne sie mit Reflexionen zu überdecken, die nicht nachvollziehbar sind. Also nutzen wir die Einstellungsmöglichkeiten in smart:reverb.

Reverb Only Tweak

Vocal + Reverb Tweaksmart:reverb by sonible

Mit nur ein paar Eingriffen haben wir den Klang des Reverbs entscheidend verändert. Die Trennung von Stimme und Hall ist nun deutlich klarer und die räumliche Komponente passt gut zum “dry” Signal. Warum ist die Änderung so auffällig? Zuerst haben wir die “Width” auf 100 erhöht, was für eine breitere räumliche Verteilung sorgt. Zusammen mit einer “bright” Färbung und einer wesentlichen Erhöhung des “Clarity” Parameters, haben wir die Frequenzkollisionen zwischen dem trockenen Signal und dem Hall reduziert. Zweitens haben wir mit der Reverb Matrix den Hallcharakter verändert, die Hallzeit verlängert und ein wenig Pre-Delay hinzugefügt, um den Gesang vom Hall weiter zu trennen. Als Letztes konnten wir mittels der Optionen Decay, Spread und Density das Ganze noch mehr aufpolieren. Ein wenig EQing war ebenfalls, besonders in den Mitten, hilfreich. Aber wir sind noch nicht komplett zufrieden. Warum? Weil wir den Gesang mit dem Raum hören anstatt des Gesangs im Raum. Nun wird es Zeit über etwas zu sprechen, dass die Aufgabe auf das Level “für Fortgeschrittene” hebt, einen besseren Klang mit sich bringt und besser steuerbar ist – räumliche Vektoren.

Zuerst kommt der Raum

Wenn wir Audiomaterial mit Halleffekten versehen, verlassen wir uns in den meisten Fällen auf Hardware oder ein Plug-in, die uns einen Gesamteindruck von einer Räumlichkeit geben. Das “Gesamt” in “Gesamteindruck” ist ein sehr heikler und unberechenbarer Teil dieses Konzepts. Wir haben keine Ahnung, wo die Wände sind, wie jeder Teil des Raumes funktioniert und wie wir den Raum mit akustischer Energie befüllen wollen. Das klingt vielleicht eigenartig, da wir die Größe des Raumes verändern und weitere Parameter bestimmen können, so wie wir es bereits getan haben, aber es bleiben trotzdem maßgebliche Fragen: Wo ist die Rückwand des Raumes? Die seitlichen Wände oder die Decke? Ihr Vorhandensein wird impliziert, aber aus was und wo sie sind, ist nicht ganz klar.

Glücklicherweise gibt es das Konzept „räumlicher Vektoren“. Du kannst sie dir als Wände eines imaginären Raumes vorstellen, inklusive dem, was sich in diesem Raum befindet – ob er leer ist, Fenster hat, möbliert ist, etc.. Ziel ist es, jedes kleine Detail dieses Raumes zu bestimmen, damit du dich nicht mehr auf einen a-la-carte „Gesamt“-Halleffekt verlassen musst. Du beginnst die Reise Schritt für Schritt – ein Element nach dem anderen. Schauen wir uns dazu die Praxis an.

Von vorne nach hinten

Lass uns mit einem Skelett beginnen – wir bilden den ersten Vorne-nach-hinten Vektor, der die Rückwand unseres zukünftigen Raumes ist. Hierzu kann ein Mono-Send verwendet werden, aber wir kreieren stattdessen einen Stereo-Send falls wir diesen Vektor erweitern müssen.

 Reverb Back Wall

Vocal + Reverb Back Wallsmart:reverb by sonible

Wie du sehen kannst, haben wir das Vocals Profil mit ein paar Einstellungsänderungen verwenden und haben nun einen Mono-Hall der mehr wie ein Slapback-Delay klingt, was wir mittels der minimalen Hallzeit, dem 84ms Pre-Delay und seinem dunkleren, wärmeren Ton (im Vergleich zur Original-Stimmaufnahme) erreicht haben. Es fühlt sich an, wie die Reflexion einer Rückwand – was genau das ist, was wir wollen. Aber der Klang ist noch nicht ganz dort, wo wir ihn gerne hätten. Deswegen fügen wir noch etwas Kompression und EQ hinzu, um die Trennung zwischen Original-Stimmtrack und neu kreiertem Sound zu schaffen.

Reverb Back Wall + Comp + EQ

Vocal + Reverb Back Wall + Comp + EQsmart:comp 2 by sonible

Der Unterschied zwischen dem Klang ohne und mit Kompression sowie EQ ist nicht drastisch, aber du kannst die Verbesserung im Kontext mit den Original-Vocals hören. Mit ein wenig Saturation, wie es der Style-Parameter in smart:comp 2 ermöglicht, wird das Ganze noch ein wenig reichhaltiger gemacht, was bei diesem Beispiel hervorragend funktioniert.

Mitte-zu-Seiten Vektor

Nun wird es Zeit einen weiteren Vektor hinzuzufügen – Mitte-zu-Seiten, oder anders, die Seitenwände unseres zukünftigen Raumes.

Reverb Side Walls

Vocal + Reverb Side Wallssmart:reverb by sonible

Wie schon zuvor, starten wir mit dem Vocals Profil und ein paar Einstellungsänderungen. Wir haben nun einen kurzen aber weiten Klang, ähnlich wie ein Doubler. Das gibt unserem Gesang seitliche Ausweitung, und in Verbindung mit unseren vorne-nach-hinten Vektor, gibt uns das Ganze eine Begrenzung des zukünftigen Raumes. Hier haben wir ein Pre-Delay von 21ms gewählt, vier Mal so schnell als bei unserem vorherigen Vektor, weil wir einen rechteckigen Raum kreieren wollen und keinen quadratischen. Pre-Delay ist ein sehr nützlicher Parameter für die Schaffung von bestimmten Raumformen. Mit ein wenig EQ wird der Unterschied zwischen Original-Aufnahme und dem Mitten-zu-Seiten Vektoren noch deutlicher.

Reverb Side Walls + EQ

Vocal + Reverb Side Walls + EQsmart:EQ3 by sonible

Die Invertierung des smart:filters in smart:EQ 3 ist sehr praktisch, besonders in Fällen, wo wir dynamisch gewissen Peak-Frequenzen verstärken wollen, anstatt sie zu reduzieren. Da uns die Mitten-zu-Seiten Verteilung die Kontrolle über die Breite des Klangs gibt, können wir die Breite mit ein wenig schlauem EQing erweitern. Ein wichtiger Hinweis: Vergiss nicht, überschüssige tiefere Mitten zu reduzieren, da der smart:filter diese sonst auch anhebt. Hören wir uns den Gesang mit beiden Vektoren an.

Reverb Back + Side Walls

Vocal + Reverb Back + Side Walls

Wir hören uns den Gesang und die beiden Sends mit Nominalpegeln an, also ist der Raum etwas zu laut. Es ist aber sehr wichtig, sich die Vektoren so anzuhören, denn selbst wenn sie zu laut sind, sollten sie nie zu einnehmend klingen und sie sollten dir eine klare Vorstellung von der Größe und der Form des Raumes geben. Wir haben bisher zwar nur das Skelett unseres Raumes gebaut, aber er ist jetzt schon ganz natürlich mit der Stimme verbunden.

Mitten-gerichtete Füllung

Wir machen weiter, indem wir unserem Skelett ein paar Sehnen und Muskeln hinzufügen.

Reverb Mid Filling

Vocal + Reverb Mid Fillingsmart:reverb by sonible

Wieder starten wir mit dem Vocals Profil und ändern die Parameter so, dass sie unserer Vorstellung entsprechen – eine gute Füllung für unseren zukünftigen Raum. Wie du sehen kannst, fügen wir dieses Mal kein Pre-Delay hinzu, aber wir drehen die Clarity hoch um die Trennung von Stimmaufnahme und Hall zu erhalten. Mit ein wenig EQing schwächen wir die hohen und mittleren Frequenzen ab.

Reverb Mid Filling + EQ

Vocal + Reverb Mid Filling + EQsmart:EQ3 by sonible

Der smart:filter hilft uns dabei die Verstärkung der ausgeprägteren Frequenz-Peaks zu reduzieren, und mit der Hilfe von zwei zusätzlichen Standard-Filtern schaffen wir eine stimmige und kontrollierte Mitten-gerichtete Füllung für den Raum. Hören wir uns nun an, wie dieser Teil unseres Raumes in Kombination mit den beiden Vektoren klingt.

Reverb Back and Side Walls + Mid Filling

Vocal + Reverb Back and Side Walls + Mid Filling

Der Raum für unsere Vocals klingt schon sehr natürlich und wirklich gut, es fehlt aber noch eine Komponente – die Seiten-gerichtete Füllung.

Seiten-gerichtete Füllung

Hier ist nun das letzte Stück in unserem Puzzle.

Reverb Side Filling

Vocal + Reverb Side Fillingsmart:reverb by sonible

Bei näherem Hinhören, ist dir vielleicht aufgefallen, dass wir einen großen, langen und reichhaltigen Halleffekt kreiert haben, der so breit wie möglich klingt, aber er ist auch dröhnend, unklar und kollidiert mit dem dry Signal. Natürlich könnten wir das mit dem Parameter Clarity und etwas Pre-Delay korrigieren, aber stattdessen verwenden wir den M/S Modus mit dem Original Gesangstrack als externer Sidechain. Wir konzentrieren uns stark auf das Mittensignal und lassen das Seitensignal unberührt – so können wir einen klaren Klang schaffen ohne den Klang unserer Seiten-Füllung auszudünnen. Wir erweitern den Hall auch auf die Seiten, was sehr gut funktioniert.

Reverb Side Filling + Comp

Vocal + Reverb Side Filling + Compsmart:comp 2 by sonible

Man hört deutlich, wie weit der Hall klingt, nachdem auf das Mittensignal die Sidechain-Kompression angewendet wurde. Mit der Reduktion von rund 9dB entstand Platz für das trockene Gesangssignal. Unsere Seiten-Füllung klingt noch immer reichhaltig, aber da wir es geschafft haben, ohne Pre-Delay auszukommen, bleibt dieser Teil unseres Raumes innerhalb der gezogenen Grenzen. Jetzt ist unser Raum eine vollständige Einheit.

Reverb Back and Side Walls + Mid and Side Filling

Vocal + Reverb Back and Side Walls + Mid and Side Filling

Wenn Vocals und Raum eine Einheit sind

Im Vergleich zu unseren Anfängen, zeigt sich nun ein komplett anderes akustisches Bild: Die Vocals befinden sich im Raum – beide arbeiten zusammen, sind intakt und vervollständigen sich. Damit einher geht, dass wir die Emotionen klar wahrnehmen, die CHIIARA mit ihrem Song transportieren will. Es mag sein, dass dir ein Teil des Raumes zu laut oder zu leise vorkommt, und der Klang noch nicht ganz deinen Erwartungen entspricht. Genau das, ist das Großartige an separaten Vektoren und Elementen eines Raumes – du kannst sie einfach so verändern, wie du es willst und wie es für den Song aus deiner Sicht am besten ist. Hier nun unser Endstück in voller Pracht.

Dry Vocal + Music

Vocal with Reverb + Musicsmart:limit by sonible

Mit einem vektorieller Zugang den Raum rund um Audiosignale zu gestalten, mag sehr komplex, überfordernd und übertrieben scheinen, wenn alles was du willst, ein einfacher Halleffekt ist. Die Vorteile mit räumlicher Verarbeitung zu arbeiten, überwiegen aber die investierte Zeit und Arbeit, denn du erhältst am Ende einen außergewöhnlich klingenden Raum für deine Gesang- und Instrumentaltracks – und ultimativ deinen Mix. In diesem Artikel haben wir ein einfaches Beispiel dieses Konzepts heruntergebrochen, aber wenn dich dieser Zugang anspricht, kannst du auch weitere Vektoren in deine Projekte bringen. Natürlich gibt es in Stereo weitaus weniger Möglichkeiten mit Vektoren zu arbeiten als in immersiven Formaten, aber selbst in Stereo kannst du clevere Ideen einbringen, um Ohren begeistern.

Über den Autor

Oleg Yershov, producer, mixing engineer, educatorDer Autor dieses Artikels, Oleg “Yorshoff” Yershov, ist ein ukrainischer Toningenieur, Lehrer und Videoblogger sowie Gründer des YORSHOFF MIX Projektes. Seine fachliche Expertise umfasst ein breites Spektrum an Themen rund um Audio: von Aufnahmetechnik, Mixing, Mastering und Post-Produktion bis hin zu Softwareentwicklung und der Gestaltung von thematisch entsprechenden Lehrmaterialien wie Artikel, Bücher, Manuals und Videos.